Textatelier
BLOG vom: 15.12.2020

Der Tag, an dem mir die Bibel auf den Kopf fiel

Autor: Wernfried Hübschmann, Schriftsteller, Hausen im Wiesental


Das Regal stand noch nicht lange an diesem Platz. Und es war auch nicht an der Wand fixiert, was bei Bücherregalen durchaus sinnvoll sein kann. Wegen des schieren Gewichts und der möglichen Schwankungen. Wegen der Statik also. Ich hatte alle Titel zu Christentum, Buddhismus, Judentum und Islam eng zueinander gerückt, auf dem obersten Brett. Ich kann von den alten Utopien einfach nicht lassen.

Direkt neben diesem Regal macht ein Sessel den Weg zum Badezimmer etwas eng. Normalerweise ist das kein Problem, aber an diesem Tag war ich wohl sehr in Gedanken, als ich aus der Dusche kam, um meine Klamotten zu suchen. Ich blieb einen Moment neben dem Regal stehen und schaute in den Garten hinaus. Der erste Nachtfrost hatte den Rasen und die Sträucher mit einer weißen Schicht überzogen.

Irgendwie muss ich das Regal leicht angestoßen haben. Es war ein dumpfer Schlag. Aus heiterem Himmel. So kann man auch seinen Tag beginnen, dachte ich. Dann erst bemerkte ich, dass es die alte Luther-Bibel war, die mir unsanft auf den Kopf und dann zu Boden gefallen war. Ich lese nur die Luther-Übersetzung. Aber so kann es nicht gemeint gewesen sein, Junker Jörg! Andererseits war ich erleichtert, dass es nicht irgendein schnöder Brockhaus gewesen war.

Gott sei Dank bin ich nicht abergläubisch – das bringt Unglück. Aber ich grüble seither über die schicksalhafte Bedeutung dieses Ereignisses und nehme mir vor, jeden Tag im Buch der Bücher zu lesen, in dem alles vorkommt, was wichtig ist. Ich werde wohl so lange lesen und meditieren müssen, bis sich das Rätsel auflöst und die ewige Wahrheit sich offenbart. Übrigens: nach einigen Minuten rutschte ein anderes Buch herunter und fiel zu Boden: Eugen Herrigels ZEN in der Kunst des Bogenschießens. Aber da war ich schon wieder angezogen.

 
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